Kämpfen für das Vaterland:
Lieber nicht! Aber ich muss leider.
Thema ist ein aktueller Beitrag zur – deutschen – Wehrertüchtigung, der auch in Österreich zur Kenntnis genommen wird: Das Buch von Ole Nymoen „Warum ich niemals für mein Land kämpfen würde“ hat es in den öffentlichen Diskurs geschafft. Thema heute im engeren Sinn ist ein Interview in der „Jungen Welt“ vom 29.3., und (noch?) nicht das Buch selbst; dazu möchte ich einige Ergänzungen anbringen. Etwa zu einer eigenartigen Frage im Interview.
Deutschland – nicht im Krieg?
Junge Welt: „Aktuell befindet sich die Bundesrepublik nicht im Krieg. Es besteht keine Gefahr, dass Sie morgen zum Dienst eingezogen werden. Wieso haben Sie gleich ein ganzes Buch zum Thema geschrieben?“
Nymoen: „Der Diskurs dreht sich doch merklich. Vor einem knappen Jahr hat der deutsche Verteidigungsminister Boris Pistorius die Kriegstüchtigkeit ausgelobt. Es wird eine ‘Zeitenwende’ vollzogen, wie es so schön heißt. Jetzt, wo die alte Weltordnung in Frage gestellt wird, nimmt man das gerne als Anlass für ein neues Großmachtstreben der EU. Und Deutschland sieht sich klar in der Führungsrolle. Wenn Friedrich Merz mit den Worten ‘Deutschland ist zurück’ vor die Weltöffentlichkeit tritt, ist das für mich ein Ausdruck dieses Strebens.“ (junge Welt 29.3.2025
https://www.jungewelt.de/artikel/496966.gegen-die-kriegst%C3%BCchtigkeit-ich-bin-nicht-bereit-f%C3%BCr-einen-staat-zu-sterben.html)
Die Frage für sich genommen ist ein wenig seltsam, da wird der Autor glatt mit einer möglichen Themenverfehlung seines Buches konfrontiert – weil sich die Bundesrepublik eh’ „nicht im Krieg“ befinde und er nicht fürchten muss, „morgen“(!) eingezogen zu werden. Nymoen erinnert im Gegenzug immerhin an „Zeitenwende“ sowie „Kriegstüchtigkeit“, und ortet ein deutsches „Großmachtstreben“.
Möchte mir ergänzend den Hinweis gestatten, dass Deutschland sich längst im Krieg gegen Russland befindet, in einem bislang für Deutschland sehr bequemen Krieg, in dem die Ukraine das Territorium und das Menschenmaterial stellt, darüber kaputt geht und sich seine Zerstörung einfängt – während die auswärtigen Sponsoren dafür das Geld und die Waffen liefern. Das Szenario beruht auf einem „agreement“, wonach Russland in der Ukraine freie Hand beim Einsatz seines Militärs hat, und die Lieferanten der Ukraine (noch) nicht als Gegner auf dem Schlachtfeld betrachtet, sich diesen Übergang natürlich vorbehält. Die Europäische Union hat obendrein den „Wirtschaftskrieg“ eröffnet mit dem erklärten Zweck, die russische Wirtschaft zerstören zu wollen. Nach der Abfuhr, die sich Präsident Selenskyj im Weißen Haus eingefangen hat, nach der drohenden Gefahr, Trump könnte die Ukraine zum Frieden durch Konzessionen an Russland zwingen, hat sich in Europa prompt eine Koalition der Kriegswilligen formiert, die hat die Ukraine zum Weitermachen aufgefordert, und für sich ein gigantisches Rüstungsprojekt beschlossen. Die Staatschefs haben sich in einem ersten Schritt selber die Erlaubnis für astronomische – „wundervolle“, wie Trump sagen würde – Kriegskredite erteilt. Auf der von den Proponenten der „Zeitenwende“ geforderten und betriebenen moralischen Aufrüstung beruht doch die ganze Debatte und das Interesse am Buch von Nymoen. Da verwundert schon der Gestus der Frage an den Autor, was denn bloß mit ihm los ist, angesichts der Ruhe überall – im Osten eh’ nichts neues, sozusagen. Dazu noch eine ganz aktuelle Meldung:
„Nach drei Jahren weitreichender Transparenz wird die neue Bundesregierung die deutschen Waffenlieferungen in die Ukraine wieder größtenteils geheim halten. ‘Die Bundesregierung wird künftig die Kommunikation zur Lieferung von Waffensystemen deutlich reduzieren’, heißt es aus Regierungskreisen. Damit wolle man vor allem ‘dem Aggressor im Ukraine-Krieg militärische Vorteile verweigern’. Es gehöre zur ‘Taktik in der Kriegsführung’, öffentliche Debatten über Waffenlieferungen zu reduzieren.“ (FAZ online 9.5.25) Daschauher! Geheimhaltung gehört zur Taktik in der Kriegsführung, sagt die Regierung … Weiter im Interview:
Die „Abschreckung“ in der täglichen Praxis
Junge Welt: „Die Gegenseite argumentiert, dass durch Hochrüstung eine Abschreckung des Feindes bezweckt wird, was am Ende den Frieden sichert.“
Nymoen: „Das ist, was immer schon alle Staaten gesagt haben. ‘Wir bewaffnen uns, um am Ende die Waffen nie zu gebrauchen.’ Komischerweise stimmt das nie. Historisch betrachtet versuchen Staaten, mehr Gewaltmittel zu haben als der Gegner. Und wenn der Punkt kommt, wo man seine Konflikte nicht mehr friedlich lösen kann, dann greift man auch zu den Mitteln der Gewalt. Ich bin nicht bereit zu glauben, dass Deutschland niemals solche Ambitionen anmelden wird.“ (junge Welt 29.3.2025)
Auch hier gibt sich das Interview ein wenig blauäugig – die eigenen Waffen seien zur Verhinderung des Krieges angeschafft, sagt immerhin die „Gegenseite“. Nymoen kontert, das stimme doch nicht, weil das einen – offenbar längst ins Auge gefassten! – Gegner zur analogen Anstrengung stimuliert. Möchte mich an der Stelle wieder einklinken, durch eine Erinnerung an den Ablauf der Ereignisse.
Der Einstieg ist zeitlich beliebig: Bekanntlich haben sich nach dem Regimewechsel 2014 ff. in Kiew in Form der Entmachtung des damaligen „demokratisch gewählten“ Präsidenten durch einen gerechten Volksaufstand – alternativ: durch einen vom Westen orchestrierten Putsch –, danach haben sich im Osten der Ukraine russische Separatisten wg. befürchteter völkischer Unterdrückung von der Zentrale in Kiew losgesagt – wahlweise: durch einen von Russland unterstützten Putsch –, und sich militärisch gegen die Zentrale behaupten können. Die Ukraine hat notgedrungen einem Abkommen (bekannt als „Minsk“) zugestimmt, in dem Verfassungsänderungen angedacht waren, die Rechte der russischen Bevölkerung im Osten der Ukraine betreffend, womit auch Russland als Schutzmacht mit Einmischungsrecht anerkannt gewesen wäre. Diese Rechte der Separatisten wurden nie schlagend, die Ukraine hat sich von russischen Ansprüchen und von der russischen Armee auch nicht abschrecken lassen, sie hat sich vielmehr in einer neuen Militärdoktrin selber damit beauftragt, den Krieg um den Donbass aufzunehmen, und wurde dafür vom Westen, der sich auch nicht hat abschrecken lassen, aufgerüstet. Im Nachhinein haben Frau Merkel (Deutschland) und Herr Hollande (Frankreich), die besagtes Abkommen als Betreuer mit ausgehandelt hatten, sich dazu bekannt, dessen Zweck wäre ohnehin gewesen, der Ukraine Zeit zur Aufrüstung zu verschaffen. Der militärische Druck der Ukraine auf den Donbass – wahlweise: der Terror gegen die dortige russische Zivilbevölkerung – nahm darüber an Fahrt auf, bis Russland sich von der Ukraine und vom Westen nicht abschrecken ließ, die Separatistenrepubliken diplomatisch anerkannte und zum Angriff überging. Speziell von besagter Militärdoktrin hat Russland sich nicht abschrecken lassen, in der sich die Ukraine dazu verpflichtete, den Krieg zu beginnen, den dann die „internationale Gemeinschaft“ – gemeint ist die NATO – übernehmen und zu Ende bringen sollte. Dazu hat sich die NATO nicht funktionalisieren lassen, sie hat immerhin die Ukraine zum Durchhalten befähigt. In der aktuellen Lage nach der Wende in den USA lässt sich besagte europäische Koalition der Kriegswilligen auch nicht von der russischen atomaren Bewaffnung abschrecken, sondern will kriegstüchtiger werden. Die gelaufenen und die laufenden Ereignisse bieten also jede Menge Anschauungsmaterial zum Stichwort Abschreckung.
(Krieg um die Ukraine: Rückblick und Ausblick https://cba.media/634185)
(https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/buergerkrieg-ukraine-neue-weltpolitische-konfrontation)
*
[Exemplarische Gründe der letzten europäischen Kriege:
Selbstbestimmungsrecht vs. territoriale Integrität
Exkurs: Die demokratischen Staatenlenker, um die völkerrechtliche Legitimation ihrer Ansprüche auch weit weg von der Heimat nie verlegen, haben je nach Bedarf zwei moralische Wuchtbrummen im Angebot, um sich und ihre Ansprüche ins Recht zu setzen. Beide sind in all ihrer Widersprüchlichkeit vom Völkerrecht gedeckt. Als da wäre einmal das „nationale Selbstbestimmungsrecht“, also das heilige Recht mancher Nationen auf einen „eigenen“ Staat, das dann gegebenenfalls viel Gewalt gegen einen existierenden Staat rechtfertigt – und andererseits die „territoriale Integrität“ bestehender Staaten, die im Fall des Falles auch heilig ist und jede Gewalt gegen die existente Souveränität als Terrorismus kennzeichnet. Wann und warum tritt was in Kraft? Die territoriale Integrität der „Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien“ war jedenfalls nichtig, sobald sich europäische Staaten entschlossen, die Separatisten im Norden (Slowenien und Kroatien) anzuerkennen und zu unterstützen, weil deren Selbstbestimmungsrecht heilig ist. Umgekehrt, umgekehrt: Die territoriale Integrität der ehemaligen jugoslawischen Teilrepublik Bosnien-Herzegowina ist nach wie vor heilig, das Selbstbestimmungsrecht der dortigen serbischen Volksgruppe ist nichtig, dafür wird der Anführer der „Republika(!) Srpska“, Dodik, nicht nur von der österreichischen Außenministerin ebenso angepöbelt wie vom „Hohen Repräsentanten“ dieses Gebildes, einer Art europäischer Kolonialgouverneur. Die territoriale Integrität Serbiens war nichtig im Verhältnis zum Selbstbestimmungsrecht des Kosovo, das übrigens bis heute keineswegs von allen europäischen Staaten anerkannt ist, weil manche einen Präzedenzfall für allfällige Separatisten im eigenen Land nicht brauchen können. Im Verhältnis zur serbischen Minderheit im Norden des Kosovo ist wieder deren Selbstbestimmung nichtig und die territoriale Integrität des Kosovo heilig, was manchen auswärtigen Beobachtern auch wieder unpraktisch vorkommt, weil da ein von beiden Seiten beliebig aktivierbarer Unruheherd nie zu befrieden geht … Usw. Das maßgebliche Kriterium für die Geltung des jeweils unantastbaren Prinzips – Integrität vs. Selbstbestimmung – ist in dem Fall die Bereitschaft der jeweiligen politischen Kräfte, sich dem Diktat der Europäischen Union zu unterwerfen; der höhere Sinn der damit und dadurch angeleiteten Blutbäder ist mit der klassischen Weisheit „divide et impera“ hinreichend umschrieben. Im Fall der russischen Bevölkerungsgruppe im Osten der Ukraine stellt sich die (Rechts)Lage aus Sicht der ukrainischen Regierung wieder völlig eindeutig dar: Dort gibt es nämlich gar keine Russen.
„Die stellvertretende Ministerpräsidentin der Ukraine, Olha Stefanishyna, besteht darauf, dass die Frage des Schutzes der russischen Minderheit in den Verhandlungen mit der EU nicht angesprochen wird. Es gäbe keine russische Minderheit, sagte sie. Auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit der EU-Botschafterin in der Ukraine, Katarína Mathernová, räumte Stefanishyna ein, dass die Frage der Gewährleistung von Minderheitenrechten auf dem Weg zur EU-Mitgliedschaft sehr wichtig sein wird. Auch eine Reihe anderer Kandidaten sahen sich während ihrer Beitrittsverhandlungen mit Forderungen in diesem Bereich konfrontiert. Doch obwohl die Venedig-Kommission in ihren Entscheidungen und Empfehlungen an Kyjiw auf die ‘russische Minderheit’ eingeht, wird sie im Dialog mit der EU nicht erwähnt. ‘Es gibt keine russische Minderheit in der Ukraine. Sie existiert nicht! Es gibt keine einzige rechtlich registrierte Gemeinschaft, die sich als russische Minderheit bezeichnet. Es gibt Ukrainer, von denen einige Russisch sprechen. Ich komme aus Odessa, ich spreche Ukrainisch, wenn ich will, und ich spreche Russisch, wenn ich will. Und dafür brauche ich weder Moskau noch die Entscheidung der Venedig-Kommission’, erklärte Stefanishyna. Sie betonte, dass auch Brüssel diese Ansicht teile. ‘Ich bin froh, dass die Europäische Kommission dies verstanden hat’, sagte sie. Zuvor soll die Europäische Kommission bei einem geschlossenen Briefing in Brüssel ebenfalls erklärt haben, dass sie die ‘Rechte der russischsprachigen Bevölkerung’ auf dem Weg der Ukraine in die EU nicht berücksichtigen werde. … Im Gegensatz zu russischen Minderheit, spielt die ungarische Minderheit in der Grenzregion Transkarpatien jedoch eine entscheidende Rolle, um die Forderungen der EU im Bereich der Minderheitenrechte zu erfüllen. Stefanishyna hatte Anfang der Woche mitgeteilt, dass sie der ungarischen Regierung einen Aktionsplan zur Minderheitenfrage vorgeschlagen habe, mit Hilfe dessen die Spannungen zwischen den beiden Ländern beseitigt werden sollen. … Im Jahr 2017 hatte das ukrainische Parlament ein Bildungsgesetz verabschiedet, das die bestehenden Rechte ethnischer Minderheiten, darunter auch die ungarische, auf Unterricht in ihrer Muttersprache einschränkte. Zwei Jahre später wurde ein neues Staatssprachengesetz verabschiedet, das die ukrainische Sprache in allen Bereichen des öffentlichen Lebens für obligatorisch erklärte.“
(https://www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/ukraine-russische-minderheit-spielt-keine-rolle-bei-eu-beitritt/)
Das wäre also geklärt; erwähnenswert ist vielleicht noch, dass im umgekehrten Bedarfsfall die derartige Bestreitung der Existenz, und damit die Bestreitung der Existenzberechtigung einer Volksgruppe als eine Form von Genozid gilt. Es kommt eben immer darauf an.]
*
Der Staat ist des Staates Wolf!
Der Schwachpunkt von Nymoens Argumentation sieht so aus:
Junge Welt: „Sie sehen im staatlichen Machtstreben die Ursache kriegerischer Konfrontationen. Dann stellt sich doch die Frage, was Staaten ‘als solche’ für ein Interesse an Krieg haben. Schließlich kostet er Haushaltsmittel und bringt der Regierung Ärger mit der Bevölkerung ein.“
Nymoen: „Man muss zunächst fragen, was überhaupt ein Staat ist. In der Staatstheorie wird der Staat für sein Gewaltmonopol gelobt. Ansonsten wäre es ja ein Krieg aller gegen alle. Da glaube ich nicht dran. … In der Realität existieren mehrere Gewaltmonopolisten, die die Gewalt nach innen reduzieren, um dann nach außen permanent gewalttätig zu sein, aber in viel krasserer Form. Ein Staat tendiert dazu, seine Macht erweitern zu wollen. … Die modernen Nationalstaaten sind aus den Kriegen der vergangenen Jahrhunderte hervorgegangen. Ein Staat, der einer sein will, muss in diesem System permanent zum Krieg bereit sein, weil er sonst eingenommen wird. Aus den konkurrierenden Souveränen, die permanent konfligierende Interessenlagen haben – auch ökonomischer Art – ergeben sich quasi automatisch ‘Reibereien’.“ (junge Welt 29.3.2025)
(Dass die Kriegsvorbereitung einer Regierung Ärger mit der Bevölkerung einbringt, das darf durch viele Reaktionen auf Nymoens Buch als relativiert bis widerlegt gelten. Die „Haushaltsmittel“ für Waffen sind offenbar auch nicht „abschreckend“.) Wie dem auch sei – Staaten sind also Gewalt, sie verbieten sie im Inneren, um sie nach außen „permanent“ geltend machen zu können; das müssen sie auch, weil sie permanent in Gefahr sind, von ihresgleichen kriegerisch „eingenommen“ zu werden … Was die Staaten im Inneren verbieten – den „Krieg aller gegen alle“ –, das sollizitieren sie gegeneinander. Die Antwort wirft halt einige Rätsel auf: Warum, wenn alle ständig gegeneinander rüsten müssen, warum verbünden sich manche der permanent kriegsbereiten Staaten mit den einen, und führen Krieg gegen andere? Wieso wurde eine bewährte, in etlichen Kriegen exekutierte „Erbfeindschaft“ gegen den Franzmann storniert? Dass ein aktuelles „Großmachtstreben“ mit einer fraglich gewordenen ganzen „Weltordnung“ zu tun hat, ist Nymoen auch aufgefallen. Wie das? Von all dem abstrahiert er jedoch gezielt im Sinne der handelsüblichen normal-Legitimation aller Staaten, wonach die je eigene Rüstung bloß wegen der Waffen der anderen unbedingt sein müsse; so als würde der nähere Blick auf die „konfligierenden Interessenlagen“ der Staaten vom Wesentlichen ablenken. Er schlägt sich halt nicht auf eine „eigene“ Seite, und gibt nur dieser in solchen zirkulären Begründungen recht gegen andere – sondern alle haben sie recht. Aber wenn alle ohnehin ständig kriegsbereit sein müssen, wie kann es andererseits sein, dass gerade die neue europäische Koalition der Kriegswilligen enorme Defizite in Sachen Bewaffnung konstatiert; kann doch eigentlich nicht vorkommen, wenn „Gewalt“ gegen ihresgleichen der Inbegriff ihres Treibens ist? Warum überhaupt erst eine „Zeitenwende“, hin zur Normalität im Staatenleben? Die erwähnten Eroberungskriege, um fremdes Territorium „einzunehmen“, die sind auch selten geworden; klar, in der Ukraine und im Nahen Osten wird derzeit dafür geschossen. Andererseits hat man auch Kriege im Interesse von Regime-wechseln kennenlernen dürfen, mit anschließenden Staatsgründungsprojekten, genannt nation-building, auch wg. „Selbstbestimmungsrecht“ mancher Völker! Wo sich also Staaten engagieren, weil es zu wenig von ihrer Sorte gibt?! Zu wenige „konkurrierende Souveräne mit permanent konfligierenden Interessenlagen“? Wieso züchten Staaten auf diese Weise ihre möglichen Gegner von morgen oder übermorgen? Zusammengefasst: Von einem politischen Programm im engeren Sinn ist in dieser Staatstheorie nirgends die Rede.
Man kann sich nicht täuschen:
Der „eigene“ Staat ist der Feind!
Diese theoretische Gleichgültigkeit gegenüber der internationalen Politik ist bei Nymoens Argumentation allerdings folgerichtig: Die Staaten benutzen ihre Bürger doch eindeutig als Menschenmaterial – damit ist seiner Meinung nach alles gesagt, damit ist alles klar, Missverständnisse sind unmöglich, man kann sich einfach nicht darüber täuschen, womit man es zu tun hat:
Nymoen: „Das Perfide ist: Darauf – auf die „Bereitschaft“ der Leute – lässt es der Staat gar nicht ankommen. Ein Staat, der nicht bereit ist, seine Bürger gegen deren Willen zu opfern, kann sich überhaupt nicht ernsthaft in der Staatenkonkurrenz behaupten.“
Junge Welt: „Sie können sich also gar nicht aussuchen, ob Sie für Deutschland in den Krieg ziehen.“ Nymoen: „Ja. Der Titel ist … doppelt gelogen. Erstens, weil ich Deutschland nicht als ‘mein Land’ ansehe. Und zweitens, weil der Staat es darauf gar nicht ankommen lässt.“ (ebd.)
Richtig. Staaten verheizen ihre Bürger im Krieg; sie nehmen billigend in Kauf, dass diese krepieren in Ausübung ihrer Pflicht, das Menschenmaterial des Feindes umzubringen. Dazu zwingen sie ihr Kanonenfutter im Fall des Falles auch gegen dessen Willen, derzeit u.a. in der Ukraine: Wehrpflicht, sobald der Staat es für nötig hält. Staaten „opfern“ übrigens nicht nur „ihre“ Menschen in dem Sinn, sondern auch deren Eigentum und überhaupt materiellen Reichtum in sagenhaften Dimensionen; alles, um sich – ihre konfligierenden Interessen, Rechte und Werte durchzusetzen. Und in der Tat, das Possessivpronomen „mein“ ist deswegen genau umgekehrt angebracht: Nicht dem Bürger gehört das Land, nicht einmal wenn er Großgrundbesitzer ist, sondern der Staat beansprucht den Bürger als seinen Besitz, wenn er den Bürger als sein Instrument be- und vernutzt! Das nächste Rätsel:
Nymoen: „Die Menschheit ist in etwa 200 konkurrierende Staaten eingeteilt und wird alle paar Jahre, je nachdem, was diese Staaten gerade als ‘ihre Sicherheit’ definieren, aufeinandergehetzt. Da werden Menschen aufeinander losgelassen, die sich nicht kennen, die sich nie kennengelernt hätten und denen es garantiert kein Problem bereitet hätte, friedlich nebeneinanderher zu leben. Sie gehen allein wegen der Machtansprüche ihrer Staatschefs mit dem Gewehr aufeinander los. Ich habe wirklich keinerlei Lust, mich daran zu beteiligen. Das bezieht sich nicht nur auf Deutschland.“ (ebd.)
Stimmt auch wieder, das beteiligte, gegeneinander vorgehende Menschenmaterial hat keinerlei persönliche Gründe, aufeinander loszugehen. Aber ist es korrekt, diese Einsicht zu radikalisieren, indem die willigen Vollstrecker gleich überhaupt keine Gründe hätten? Noch einmal: Die veranstaltenden Staaten sehen sich permanent durch andere bedroht, welche sich zirkulär auch wieder bedroht sehen, seiner Staatstheorie nach ist das völlig zutreffend; Nymoen will sich halt nicht für eine der Parteien entscheiden, auch nicht für Deutschland. Ihm ist sehr wohl bekannt, dass er mit dieser „Neutralität“ ziemlich allein auf weiter Flur steht:
Nymoen: „Als ich einen Artikel dazu bei Zeit Online geschrieben habe, war es extrem. In der Kommentarspalte waren fast alle wahnsinnig sauer, dass ich nicht kämpfen wollen würde. Das liegt an der Klientel. Also an einem bürgerlichen Publikum, das sauer ist, wenn sich jemand erlaubt zu sagen: ‘Mir ist es der Staat nicht wert’. Weil diese Klientel den Staat wahnsinnig schätzt, ist es wie eine Art Sakrileg.“ (ebd.)
Weswegen sind die Leser denn „wahnsinnig sauer“, auch wenn sie ziemlich sicher selbst „nicht gern im Schützengraben sitzen würden“? Weil sie den Staat „wahnsinnig schätzen“ – klar, das tun sie offenbar … Weil sie bloß „wahnsinnig“ sind? Ein leicht anders gestimmtes Publikum ist angeblich ähnlich begeistert vom Staat, weil es immerhin dank Meinungsfreiheit unzufrieden sein darf: „Für diese Menschen ist es das Allergrößte, dass sie etwas fordern dürfen, was sie nie bekommen. Und das ist ihnen angeblich ihr Leben wert.“ (ebd.)
Umso dringender wäre wohl, das ungeheure Rätsel erstens zu benennen – Patriotismus – und eventuell auch aufzuklären: Wie es also dazu kommen kann, dass nicht wenige der vom Besitzanspruch der Staaten Betroffenen die Sache auf den Kopf stellen und gegen die brutale Vereinnahmung durch „ihr“ Land nicht protestieren, sondern sich darin wiederfinden? Hier eine konzentrierte Antwort, schon öfter zitiert; aber solche Sachen kann man nicht oft genug betonen:
„Unter Patriotismus wird häufig nur die Aufgelegtheit zu außerordentlichen Aufopferungen und Handlungen verstanden. Wesentlich aber ist er die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse“ – im Frieden – „das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist. Dieses bei dem gewöhnlichen Lebensgange sich in allen Verhältnissen bewährende Bewußtsein ist es dann, aus dem sich auch die Aufgelegtheit zu außergewöhnlicher Anstrengung begründet.“ (Hegel, Rechtsphilosophie § 268) Vielleicht ist da was dran. Aber da müsste man sich wohl schlussendlich mit dem im gewöhnlichen Lebensgange sich in allen Verhältnissen bewährenden Bewußtsein auseinandersetzen – dem Nymoen aber aus dem Weg geht, sofern diese Gesinnung auch auf „für den Staat sterben“ hinausläuft – und damit schon blamiert sein müsste. Eigentlich. Aber eben nicht blamiert ist.
Literatur:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/blutige-lektionen-ueber-segen-staatlicher-souveraenitaet
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/konkurrenz-kapitalisten-v-0#sectionidm47
*
Nachtrag, weil gerade für eine linke Zeitung doch peinlich: „In der marxistischen Imperialismustheorie wird von Krisen der Überakkumulation ausgegangen, die durch Kapitalvernichtung – zum Beispiel im Krieg – ‘gelöst’ werden können.“ (junge Welt)
Kapitalvernichtung meint Entwertung von Kapital – Aktien, Schuldtitel sind nichts mehr wert, auch Fabriken, weil sie kein Geld mehr einspielen –, und nicht physische Zerstörung.
Und: Habemus papam!
Sehr guter Beitrag: kein bashing, aber auch auf Schwachstellen des Buchs eingegangen. Ein Buch, das in dem Aufrüstungs- und Kriegsertüchtigungsprojekt ein seltener Kontrastpunkt ist.
Danke! Vielleicht ist noch ein nähere Befassung mit dem Buch selbst angebracht.