Bewältigung eines „schoolshooting“

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  • 12_06_2025_Schoolshooting_bewältigt
    23:19

Bewältigung eines „schoolshooting“

Ouvertüre: So sind wir nicht!

Einige Berufsgruppen müssen eine Sonderschicht einlegen: Politiker, Journalisten, Psychologen. Politiker vom Bundespräsidenten abwärts beanspruchen erst mal die Deutungshoheit für sich. In vielen Varianten – mal mehr von der persönlichen Betroffenheit getragen, mal mehr von der Pflicht als Verantwortungsträger motiviert, den Bürgern „Orientierung“ zu verschaffen, also denen zu sagen, wo es jetzt lang geht, mental, emotional, und überhaupt – jedenfalls vielstimmig erklären sie uns allen, dass so ein Massaker auf alle Fälle mit „uns“, mit „unserem“ way of life nichts zu tun hat, weswegen so ein Blutbad das verlangt, was sie ohnehin immer verlangen: „Wir“ müssen wieder mal „zusammenstehen“, diesmal, weil die Tat unfassbar, unerklärlich, erschütternd, Ratlosigkeit auslösend etc. usw. ist. Was „wir“ da eigentlich tun sollen, wenn wir so schön „zusammenstehen“, das ist etwas verschwommen, es geht ohnehin jeder nach den diversen Gedenkminuten und -gottesdiensten wieder seiner Wege … Aber eine Botschaft, die lauschen wir bzw. unsere Machthaber stellvertretend für „uns“ gewohnheitsmäßig noch jeder ähnlichen Untat ab, sie lautet: „Wir“ sind ein vorbildliches Nationalkollektiv, und deswegen gilt wieder mal das elementare nationale Dogma: SO SIND WIR NICHT! Der regierende Meister dieser Disziplin persönlich erklärt, „‘Wir hätten nie gedacht, dass so etwas in Österreich passieren kann’, sagte Van der Bellen. Es sei unbegreiflich, was da passiert sei, junge Menschen seien brutal getötet worden. Selbst wenn alle Umstände der Tat in Erfahrung gebracht werden könnten, mache das diese Tat nicht erträglicher“.

Anders gesagt, dieses Erklärungsverbot ist das Gebot, Tat und Täter auszugrenzen, aus „unserer“ Normalität. Das Einleitungsplädoyer der besinnlichen Selbstvergewisserung ist ganz, ganz wichtig; denn das, was nachher kommt, widerspricht diesem Dogma ziemlich brutal. Unerklärlich? Von wegen!

Die Bewältigung: Oder doch?

Es gibt längst, nicht nur in der Steiermark, die einschlägige Checkliste: Die Bildungsdirektion Steiermark habe eine Checkliste, die in allen Schulen aufliege, heißt es aus dem Bildungsministerium in einer ersten Reaktion gegenüber dem KURIER. In dieser Checkliste steht, wie sich Betroffene, aber auch die Schulleitung, im Fall eines Amoklaufs zu verhalten haben – Punkt für Punkt.“ (Kurier 11.6.25) Was tun? Polizei verständigen, durch Codewort die Lehrer und Schüler informieren, im Klassenzimmer verbarrikadieren, Fluchtwege benutzen, bis zur nachträglichen Dokumentation ist alles geplant. Alles ist vorbereitet für das Unfassbare, Unvorhersehbare, Unverständliche.

Die weitere Berichterstattung beginnt mit einer ausführlichen Liste bekannter School-Shootings, wie der Fachausdruck lautet. Sowohl der einheimischen Ereignisse, die es dann doch gibt, aber gern beginnend mit der legendären Mutter aller dieser Massaker, seinerzeit an der Columbine High, 1999: Nach ihrer Tat kam es weltweit zu einem deutlichen Anstieg solcher Schulmassaker, viele der Attentäter gaben den Amoklauf an der Columbine als ‘Inspiration’ an. Die Wissenschaft nennt das den ‘Columbine-Effekt’.“ (ebd.) Offenbar sind an Bildungsanstalten nicht wenige Zöglinge zu treffen, denen zumindest Gewaltphantasien gegen Schule und Lehrer sehr vertraut sind. Nur dann wirkt so ein Massaker als „Inspiration“!

Ein Fachmann für Kinder- und Jugendpsychiatrie rechnet ebenfalls damit, dass sich auch andere zumindest geistig an den Amoklauf heranarbeiten könnten; und sich womöglich vom Eindruck beeindrucken lassen, den der Täter durch seinen Terror, durch die Verbreitung von Angst und Schrecken hinterlassen hat: Plener erinnert auch Medien an ihre Verantwortung: Sie müssten sehr genau darauf achten, was sie über den Täter berichten, und sollten ‘möglichst wenig Identifikationspotenzial’ liefern: ‘Je weniger Beschäftigung’ mit seiner Person, ‘desto besser’. Es sei hier eine ähnliche Zurückhaltung geboten wie bei Suiziden. Die Gefahr der Nachahmung sei ‘nicht kleinzureden’, warnt Plener.“ (Standard.at 11.6.25) Wieder: In dem Fall muss sich ein Amok-Aspirant schon länger aus seinen Motiven mit seinen Rachephantasien herumplagen. So eine „Inspiration“ ist maximal der „Trigger“, aber nie der Grund. Niemand imitiert Taten, die ihn nicht interessieren.

Apropos Suizid: Wenn sich Schüler – kommt durchaus vor – ohne begleitendes Blutbad umbringen, ist die öffentliche Resonanz zwar geringer; aber auch daran wird man anlässlich der Tat wieder mal erinnert. Ebenso daran, dass an Schulen gerichtete Bombendrohungen in schöner Regelmäßigkeit bekannt werden. Der Grazer Täter soll auch daran gebastelt haben. Die glaubhafte Verwunderung bei Fachleuten, weil der Täter erst Jahre nach Verlassen der Schule es dieser schlussendlich doch nicht mehr verzeihen konnte – auch diese Verwunderung verdeutlicht, was über das Seelenleben aktiver Schülern durchaus bekannt ist.

Ein anderer Fachmann macht mit bemerkenswerter Deutlichkeit die angegriffene Institution verantwortlich, als Ort „der meisten Kränkungen“:
Bei School-Shootings handelt es sich aus Sicht des Schützen meist um ‘Rache an der Schule als Institution’ … erläuterte der Vorarlberger Psychiater Reinhard Haller … Bei solchen Taten zeigen sich laut Untersuchungen zwei wiederkehrende Muster: eine vorhandene ‘Griffnähe zur Waffe’ und eine schwere ‘Gekränktheit’ des Täters. ‘Diese Menschen haben Kränkungen erlitten, die von außen Kinkerlitzchen sind, aber die für sie die Welt bedeuten’, sagte Haller. ‘Das können kleine Sticheleien sein, denen man von außen hin nicht viel Aufmerksamkeit schenkt.’ Dennoch handle es sich um ‘schwer getroffene Individuen’. Diese fahren nicht an ihre Schule – oder teils Jahre später an ihre ehemalige Schule –, um bestimmte Lehrer oder Schüler zu töten, die sie gekränkt haben. Es gehe um die Schule als Institution und Rache an der aus Tätersicht ‘kalten, ausschließenden Gesellschaft’, … Es handle sich dabei nicht um Amokläufe, die mit Verwirrtheit zu tun haben, sondern um einen gezielten Vorgang gegen die Schule. Die Institution sei der ‘Ort der meisten Kränkungen’, sagte der Psychiater und Psychotherapeut.“ (Standard.at 10.6.25)

Und warum ist denn die Schule, dieser Hort der Bildung, auch oder genau deswegen der Ort der „meisten Kränkungen“, die womöglich „von außen Kinkerlitzchen sind, aber die für sie die Welt bedeuten“? Immerhin ist bekannt, dass diese Institution die Chancengleichheit organisiert, die eben eine Gleichheit der Chancen ist, aus denen die Beteiligten dann schon etwas machen müssen, was öfter schiefgeht; das kennt auch die Psychiaterin und Gerichtsgutachterin Adelheid Kastner:

Die Täter haben hohe Ansprüche, denen sie aber nicht gerecht werden können und scheitern mehr oder weniger am Leben und dafür suchen sie dann Schuldige. Nachdem die Schule der Ort ist, wo die Kränkungen beginnen, findet man die Schuldigen dann häufig in der Schule. Dort rächen sie sich dann eben für dieses erlittene Unrecht. … Ein Gescheiterter, der einfach nichts zusammengebracht hat und sich dafür offenbar an irgendwem rächen musste oder wollte“.
(https://ooe.orf.at/stories/3309064/)

Au contraire! Der Täter wollte sich doch nicht an „irgendwem“ rächen, sondern an der Instanz und dem Ort, wo die „Kränkungen beginnen“, weil – wer hätte das gedacht – schon in der Jugend über Erfolg und Scheitern sehr viel entschieden wird. Dass er in Wahrheit „am Leben“ gescheitert ist, von dem er jenseits der Schule nicht viel konsumiert hat, darauf ist er offenbar nicht gekommen. Dafür steht auch der Termin, er hat während der Reifeprüfungen zugeschlagen – einer Chance, die ihm verwehrt wurde, und damit alles, was an weiteren Chancen an der Matura hängt.

Wie macht „unsere“ Schule das?
Eine moralische Anstalt jenseits des Ethik-Unterrichts!

Dass Selektion – früher oder später oder mit etwas weniger Leistungsdruck und mehr Verständnis – sein muss, steht fest. Der Vorwurf, es gehe nur um Leistung, ist allerdings daneben, denn es geht in der Schule eben nicht darum, dass alle die verlangte Lernleistung erbringen, sondern es werden Leistungsunterschiede in einem Vergleich festgestellt, der so organisiert ist, dass es neben „leistungsstarken“ immer auch „schwache“ Schüler gibt und geben muss. Es geht nicht darum, Grundbestände des gesellschaftlichen Wissens zum Allgemeingut zu machen, sondern darum, die Kinder zu sortieren. Alle Unterschiede, die Schüler von daheim mitbringen, kommen da zur Geltung. Die Schule macht keinen Unterschied, die Frist zum Aneignen sowie fürs Ausspucken des Stoffes ist für alle gleich. Die erteilte Note sagt nichts über den Kenntnisstand, sondern verwandelt diesen in eine Zahl, um ihn von dem der Mitschüler zu unterscheiden. Dieses Verfahren, systematisch Leistungsunterschiede hervorzubringen, ist kein Versagen der Anstalt, sondern ihr Zweck. Den eigenen Erfolg kann keiner berechenbar sicherstellen, der hängt vom Vergleich mit anderen ab, deren Leistung er nicht in der Hand hat. So produziert diese Konkurrenz Gewinner, Verlierer und ein Mittelfeld: Die Schule beliefert die getrennt von ihr feststehenden Positionen der Klassengesellschaft, höhere mit besserem Einkommen und viele schlechtere mit viel Arbeit für wenig Lohn – oder gar nicht.

Idealisten der Erziehung machen sich ein Bild von der Schule, demzufolge sie keine Unterschiede herstellt, sondern nur feststellt, was die Schülerperson unabhängig von der Schule an Potenzial so mitbringt. Weil genau so die schulische Konkurrenz einem jeden den zu seinen Anlagen und Eignungen passenden Platz zuweist. Weshalb man dem einen oder anderen nur zu seinem Besten die Weiterbildung erspart. Auch kritische Pädagogen, besorgt ob einer zu frühen Sortierung nach der Volksschule, wollen mit dem Ideal einer gerechten Sortierung ernst machen.

Die Objekte der Auslese machen mit. Praktisch stellen sich die Schüler der Konkurrenz, der sie unterzogen werden, indem sie sich zum Mittel des Erfolgs in ihr herrichten. Den Zwang legen sich ihre Aktivisten als Gelegenheit zurecht, Leistungswillen und -fähigkeit als persönliche Eigenschaften zu entfalten. Die verlangte Anpassung erscheint als Angebot zur Präsentation ihres Selbst und zur verdienten Anerkennung des Erfolgs. Man geht hin, um etwas aus sich zu machen, und dass es also voll auf einen selbst ankommt, das kennt Schüler auch von seiner Lebenswelt außerhalb der Schule. So lassen sich Noten als persönliche Schwächen oder Stärken deuten, und die Übersetzungen der Resultate der Konkurrenz in persönliche Eigenheiten lassen sich radikal bis zur Einbildung zuspitzen, man sei vom Typ her letztlich eben ein Gewinner oder ein Loser.

Die Zeugnisse nehmen Schüler zwangsläufig als Urteile über den Wert der eigenen Person und deren Selbstwertgefühl. Die Schule lässt ihnen keine Alternative dazu, dieses Urteil als verbindlich anzuerkennen, es sich – so oder so, affirmativ, kritisch oder selbstkritisch – zu eigen zu machen. Der Unterricht vermittelt seinen Objekten, ihre wesentliche Identität als brauchbare Persönlichkeit äußert sich im erfolgreichen Abarbeiten vorgegebener Anforderungen; im permanenten Vergleich, den eine gegebene Instanz nach ihren Kriterien vornimmt. Mit dem Übergang in diese Psychologie wird die Schule zum Ort persönlicher Triumphe oder Blamagen; Sitzenbleiben ist dann weniger der praktischen Folgen wegen schlimm, sondern demütigend. Auch bei den landläufigen „Versagern“ ist zumindest das Lernziel Selbstbewusstsein angekommen, und die wenigsten legen sich die pflegeleichte Einstellung zu, Verlierer zu sein. Zum Schulalltag gehört die Beschwerde, dass das schlechte Abschneiden unmöglich sein kann, dass man es nicht verdient hat. Also lastet man es dem Lehrer an, der das eigene Potenzial entweder schlecht heben kann oder ein Arschloch ist, das einen nicht leiden mag und absichtlich blamiert.

Nicht wenige versuchen die Maßstäbe der Schulkonkurrenz zu ignorieren, indem sie sich nach anderen Schauplätzen umtun, wo sie im Reich ihrer paar Freiheiten alternative Wettbewerbe aufmachen, in denen sie die Weltmeister sein wollen. Kaum eine Freizeitbetätigung, die nicht zur Bühne der Ego-Pflege wird, weshalb sie dann eher kein Vergnügen ist. Cooles Outfit, plakative Hautverletzungen oder -bemalungen, Komasaufen, Mutproben. Die anerkannte Psycho-Logik, dass ein Super-Selbstbewusstsein nicht erst der ideelle Lohn des Erfolgs ist, sondern das unverzichtbare Mittel, ihn einzufahren, ist schließlich Allgemeingut.

Klar ist, auch die privaten Konkurrenzen verbürgen die Anerkennung so wenig wie die schulische. Wenn das Subjekt die Diskrepanz zwischen den eingesammelten Bewertungen und dem Selbstwertgefühl registrieren muss, kann es beschließen, umso mehr auf dem eigenen Wert zu beharren und sich kompromisslos ein Recht auf dessen Anerkennung einzubilden. Ist dieser Standpunkt eingenommen, geht es ans Eingemachte, als die Betreffenden bei mancher Gelegenheit ohne speziellen Inhalt oder Umstand sogleich bei der grundsätzlichen Frage der Ehre landen und den abstrakten Respekt vor der eigenen Person einfordern. Wer so tickt, deutet jede ausbleibende oder auch nur subjektiv vermisste Anerkennung als Verweigerung derselben und damit eines Rechts, das einem zusteht. Ob Lehrer oder Mitschüler das tatsächlich als diese Erniedrigung meinen oder nicht, ist für die eigenwillige Sicht der gekränkten Ehre belanglos: Sie nimmt es so oder so als weiteren Beleg dafür, dass hinter all den Demütigungen lauter Mitmenschen auszumachen sind, die einen, warum auch immer, fertig machen wollen. So ist zugleich die Adresse der Rache, die Genugtuung verschaffen soll, gefunden: Wer auf Rache sinnt, kann die Schmach nicht auf sich sitzen lassen; das erlittene Unrecht verlangt von ihm, es den Übeltätern so richtig heimzuzahlen.

Die Rache beansprucht ihren Platz im Gedanken- und Gefühlshaushalt, betätigt sich in der Fantasie, wo nicht nur so mancher Lehrer dran glauben muss. Sie liefert die einschlägigen Sprüche, was Polizisten und Psychologen von ihrem Fahndungs- oder Präventionsstandpunkt her entdecken: Müsste man jede gehörte Drohung ernst nehmen, könnte man die Bildungsanstalten dauerhaft evakuieren. Ob sich einer von der Rachephantasie zum blutigen Ernst vorarbeitet und den Schritt zu diesem Wahnsinn tut, hängt an der Radikalität, an der Ausschließlichkeit, mit der er seinen Lebensinhalt ganz auf das Recht, Ehre zu verdienen, ausgerichtet hat, so sehr, dass er die empfundenen Verletzungen dieses Rechts nicht mehr aushalten will. Die gewöhnlichen Berechnungen des Konkurrenzsubjekts muss dieser Fundamentalist des Ehrgefühls weit hinter sich lassen, wenn er auf seine Art noch in der Tat selbst die Denkweise bekräftigt, aus der er sich endgültig verabschiedet: Er zeigt allen, dass ihnen doch überlegen ist, und das in einem viel grundlegenderen Sinn, als in dem lächerliche Wettlauf um Noten oder Statussymbole. Das Urteil seiner Wertlosigkeit, das die Mitwelt vermeintlich über ihn gesprochen hat, will er zurechtrücken und umkehren, indem er den Beweis erbringt, dass er tatsächlich die Macht hat, sich die Ehrverletzungen nicht bieten zu lassen, sondern sie zu bestrafen und damit seine Ehre wiederherzustellen. Dass die Gewalt das unwiderlegbar praktische Argument des Rechts ist, hat der junge Zeitgenosse offenbar mitbekommen, und zwar nicht von Computerspielen. Die Brutalität ist für ihn die adäquate Antwort auf die Schwere des Verbrechens, sich an ihm, an seiner Ehre vergangen zu haben. Diesen Wahn schließlich kann der Amokläufer nur durchziehen, indem er selbst sein Gemetzel nicht überlebt. Nachher noch einmal als Versager vorgeführt zu werden, diese Genugtuung muss er seinen Feinden verweigern.

Zum Schluss nochmal die entscheidende Frage zur Bewältigung

Was dürfen wir über den Täter von Graz wissen, ohne Nachahmer zu motivieren? Eine Tat wie jene in Graz wird sich nie verstehen lassen – dennoch beginnt die Suche nach Antworten. Wo endet legitimer Wissensdrang, und wo beginnt die Gefahr, einen Täter zum Helden zu machen?“ (Standard.at 12.6.25)

Diese Frage ist mindestens so verrückt wie der Amokläufer, weil sie ihn gar so gut versteht! Ausgerechnet das Wissen um die Wahnsinnstat soll die Gefahr bergen, ihn zum Helden zu machen, und es ihm dann womöglich gleichtun zu wollen? Ist das nicht geballter Irrsinn? Schon, es sei denn, ein ganz normaler Irrsinn ist dabei vorausgesetzt, unterstellt: Nämlich die ganz gewöhnlichen, ganz ordinären, alltäglichen Rachephantasien bürgerlicher Individuen. Denn genau die und nichts anderes hat der Amokläufer in die Tat umgesetzt. Er hat es nicht allen, aber der entscheidenden Institution, die ihn abgrundtief gedemütigt hat, der hat er es so richtig gezeigt, der hat er es heimgezahlt, er hat praktisch bewiesen, dass er sich nicht alles gefallen lässt. Einmal ein Held, für die letzten fünf Minuten seines Lebens.

Wer in dem konstruktiv-pragmatischen Wahn lebt, der bürgerliche Laden von Bildungswesen und Geschäft und Politik und Familie wäre eine Ansammlung von schwierigen, aber doch nutzbaren Gelegenheiten, es durch eigene Leistung zu etwas zu bringen – wenn, ja wenn alle anderen auch so vorbildlich agieren würden wie man selber –, der landet über kurz oder lang bei der Gewissheit, dass die Welt ungerecht und schlecht ist. Weil alle möglichen Figuren – Vorgesetzte, Lehrer, Beamte, Professoren, Kollegen, Ehefrauen und -männer, Politiker, Taxifahrer, etc. – es an der ordentlichen Pflichterfüllung fehlen lassen, auf die man doch Anspruch hätte. Eigentlich. Dann tagträumen sich nicht wenige frustrierte Aktivisten von Anstand und Erfolg, von Erfolg durch Anstand, in die Bilder von der eigenen gerechten Gewalt gegen diverse Widersacher, die einem das Leben schwer machen, weil sie es an Respekt fehlen lassen. Die Radikalität bis zum bitteren Ende, und nur die, die unterscheidet den Amokläufer von den normalen Mitmachern. Deswegen „verstehen“ Politiker, Journalisten und Psychologen die Tat auch so gut, und deswegen gilt die Parole, dass man hier nichts verstehen darf.

Einige der vorgetragenen Überlegungen stammen aus folgenden Texten bzw. wurden davon „inspiriert“:

Schule der Konkurrenz
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/schule-konkurrenz#section6

Zwei Amokläufe:
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/amoklauf-winnenden
https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/amoklauf-erfurt

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